Chemienobelpreis 1968: Lars Onsager

Chemienobelpreis 1968: Lars Onsager
Chemienobelpreis 1968: Lars Onsager
 
Der Amerikaner erhielt den Nobelpreis für »die Entdeckung der nach ihm benannten wechselseitigen Beziehungen, die grundlegend für die Thermodynamik der irreversiblen Prozesse sind«.
 
 
Lars Onsager, * Oslo 27. 11. 1903, ✝ Miami 5. 10. 1976; ab 1920 Chemie-Ingenieurstudium an der Technischen Hochschule in Trondheim (Norwegen), ab 1928 Lehrauftrag an der Brown University in Providence (USA), ab 1934 Chemieprofessor an der Yale University in New Haven (USA), 1972-76 Professor am Center for Theoretical Studies der Coral Gables University in Miami.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit Lars Onsager erhielt ein Wissenschaftler den Chemienobelpreis, der zu vielen Problemen im Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie grundlegende Beiträge geliefert hat. Es war ebenso wenig selbstverständlich, dass er mit dem Chemie- und nicht mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet wurde und für welche Leistung dies geschah. Für die Theorie der Elektrolyte? Für die Erklärung der elektrischen Leitfähigkeit in Eis? Für seine Arbeiten über Supraleitung? Wenn das Nobelkomitee sich für die Reziprozitätsbeziehungen (Wechselbeziehungen) entschied, deren Veröffentlichung zum Zeitpunkt der Preisverleihung bereits 37 Jahre zurücklag, trug es einem wissenschaftlichen Trend Rechnung. In den 1960er-Jahren hatte man auf dem Gebiet der Ungleichgewichtsthermodynamik große Fortschritte gemacht und erst in diesem Zusammenhang erfuhren die Onsager'schen Beziehungen ihre volle Anerkennung. Eine so späte Würdigung erscheint symptomatisch für Onsagers Wissenschaftlerleben, das weithin von intellektueller Isolation und fehlendem Verständnis seitens der wissenschaftlichen Welt geprägt war. Seine umfassende Gelehrsamkeit wirkte oft aufreizend. Die Kollegen halfen sich aus ihrer Verlegenheit, indem sie lieber zahlreiche Anekdoten über ihn in Umlauf setzten.
 
 Korrektur der Debye-Hückel-Theorie
 
Unmittelbar nach Abschluss seines Studiums als Chemieingenieur an der Technischen Hochschule im norwegischen Trondheim im Jahr 1925 reiste Onsager nach Zürich, um Peter Debye (Nobelpreis 1936) mitzuteilen, dass seine nur zwei Jahre zuvor zusammen mit dem deutschen Physiker Erich Hückel publizierte Theorie der starken Elektrolyte falsch sei. Debye war zu diesem Zeitpunkt Professor für Physik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule und ein etablierter Wissenschaftler, Hückel war sein Assistent. Die berechtigte Kritik des jungen Hochschulabsolventen beeindruckte Debye tief, er bot ihm direkt eine Assistentenstelle an. Onsager blieb von 1926 bis 1928 in Zürich.
 
Die Debye-Hückel-Theorie behandelt unter anderem das Problem der Leitfähigkeit so genannter starker Elektrolyte. Dies sind gewöhnlicherweise Säuren, Basen oder Salze, von denen man damals annahm, dass sie im gelösten Zustand vollständig in Ionen zerfallen, das heißt, sich auflösen. Derartige Lösungen wiesen sehr viel höhere elektrische Leitfähigkeiten auf als nach der klassischen Theorie der Lösungen erwartet werden konnte. Debye und Hückel ersannen ein verbessertes Modell, das die elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen den Ionen miteinbezog. Das bedeutete, dass sie nicht mehr von einer gleichmäßigen Verteilung der Ionen in Lösung ausgingen, sondern ein dynamisches Wechselspiel annahmen zwischen den elektrostatischen Kräften, die geordnete Konstellationen ähnlich denen eines Salzkristalls hervorrufen, und den durch die Wärmebewegung verursachten kinetischen Zusammenstößen, die diese Ordnung wiederum zerstören. Onsager akzeptierte dieses Modell im Prinzip, fand jedoch die mathematische Ausführung fehlerhaft. Debye und Hückel hatten bei der Berechnung des Leitfähigkeitsverhaltens unter anderem vorausgesetzt, dass ein bestimmtes betrachtetes Ion sich in einem elektrischen Feld geradlinig fortbewegt, die dieses Ion umgebenden anderen Ionen aber weiterhin auch ungeordnete Wärmebewegungen ausführen. Onsager erkannte in dieser Asymmetrie den theoretischen Fehler. Unter der Voraussetzung, dass für alle Ionen dieselben Bedingungen und Bewegungsgesetze gelten, gelangte er zu Gleichungen, die die Messergebnisse sehr viel besser reproduzieren konnten. Doch auch Onsagers Theorie versagt bei konzentrierten Lösungen. Das Problem der starken Elektrolyte ist nach wie vor nicht zufriedenstellend gelöst.
 
 Die Reziprozitätsbedingungen
 
Drei Jahre später siedelte Onsager in die USA über. Ein erster Lehrauftrag an der Johns Hopkins University in Baltimore wurde nicht verlängert, weil er sich als unfähig erwies, den Studienanfängern Grundlagenwissen zu vermitteln. Onsager verstand es nie zu unterrichten und die Studenten bespöttelten seine Vorlesungen später gern als »Norwegisch für Fortgeschrittene I und II« oder als »Sadistische Mechanik«. Glücklicherweise bekam er nach dieser Kündigung einen neuen Lehrauftrag an der Brown University in Providence, wo er bis 1933 blieb. In dieser Zeit entwickelte er die Reziprozitätsbeziehungen. Kurioserweise wurden diese Arbeiten, die später preisgekrönt wurden, von Onsagers Heimatuniversität in Trondheim als Dissertation abgelehnt.
 
Die Reziprozitätsbeziehungen liefern eine verallgemeinerte Behandlung des bereits bei der Leitfähigkeitstheorie aufgetauchten Problems der Überlagerung von »Flüssen«. Hier hatte es sich um die Kopplung zweier Materieflüsse, der Diffusion (Ausgleich von Konzentrationsunterschieden) und der Bewegung im elektrischen Feld gehandelt. Die Reziprozitätsbeziehungen gelten jedoch für gekoppelte Flüsse ganz allgemein, ob es sich nun um Energie, Materie oder Elektrizität handelt. Onsager nahm an, dass die jeweiligen Fließgeschwindigkeiten proportional zu den auf die Flüsse wirkenden Kräften sind. Im Fall zweier gekoppelter Flüsse gibt es jeweils eine Kraft, die mit einem Fluss in direkter und ein die mit ihm in indirekter Beziehung steht. Nach Onsager sind nun die Proportionalitätsfaktoren der »indirekten Kräfte«, die er als »phänomenologische Koeffizienten« bezeichnete, jeweils gleich. Das bedeutet zum Beispiel, dass der Proportionalitätsfaktor der »Diffusionskraft«, die auf den Ionenfluss einwirkt, mit dem Proportionalitätsfaktor der elektrostatischen Kraft, die auf die Diffusion einwirkt, übereinstimmt. Aus dieser Reziprozitätsbeziehung ließen sich Gleichungen ableiten, die erstmals theoretische Berechnungen der Geschwindigkeiten irreversibler Prozesse erlaubten. Im angloamerikanischen Raum wird die Reziprozitätsbeziehung häufig auch als vierter Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnet. Die Reziprozitätsbeziehungen erfassen eine Vielzahl von Phänomenen, doch Onsager selbst hat dazu nie experimentelle Untersuchungen durchgeführt. Als er zu Beginn der 1930er-Jahre aufgefordert wurde, nicht nur theoretisch zu arbeiten, schlug er ein Experiment zur Thermodiffusion vor, dessen Ausführung — er benötigte angeblich ein mehrere Meter langes Platinrohr — jedoch so teuer gewesen wäre, dass es abgelehnt wurde. Das Prinzip der Thermodiffusion, das heißt des unterschiedlichen Bewegungsverhaltens verschieden schwerer Gasmoleküle in einem Temperaturgefälle, fand im Rahmen des Manhattan-Projekts technische Anwendung bei der Isotopentrennung zur Herstellung nuklearen Sprengstoffs.
 
J. Berger

Universal-Lexikon. 2012.

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